EMOP Berlin 2020

© Kulturprojekte Berlin, Foto: Oana Popa

Ein Monat Fotografie

Die Werke von über 500 Fotograf*innen. 31 Tage vom 1. bis zum 31. Oktober 2020. Ein Schwerpunkt namens „Europa – Identität, Krise, Zukunft“: Das ist das größte Fotofestival Deutschlands, der EMOP Berlin – European Month of Photography mit über 100 Ausstellungsorten in ganz Berlin. Unsere Autorin hat im Vorfeld fünf von ihnen für Euch besucht.

Ohne resolute Ansagen ist man als Busfahrer in Berlin verloren. „Mit dem Kinderwagen nicht vorne einsteigen!“ „Raus aus der Lichtschranke, sonst schließt die Tür nie!“ „Döner verboten!“ Oder, heute: „Hände her!“ Beherzt versprüht der sonst sehr gemütliche Herr Desinfektionsspray aus einer Flasche. Es folgt noch die Bitte „Im Bus aber nicht essen – wegen der Maske. Die bleibt auf.“ Dann kann es losgehen mit der Tour zu fünf Ausstellungsorten des  EMOP Berlin – European Month of Photography – ein Testlauf ein paar Tage vor der feierlichen Eröffnung.

Akademie der Künste am Pariser Platz
© Kulturprojekte Berlin, Foto: Oana Popa-Costea

Vor den Kulturgenuss hat das Jahr 2020 das Hygienekonzept gesetzt. Das wird ernst genommen, mit Recht. Über Wochen war im Frühjahr völlig unklar, ob die neunte Ausgabe des größten Fotofestivals Deutschlands im Jahr der Corona-Pandemie überhaupt stattfinden könne. Doch Absagen kam für kaum einen der Beteiligten infrage. Im Mai stand dann fest: Wir machen das, wie geplant, vom 1. bis 31. Oktober. Mit über 100 Ausstellungen in Museen, Galerien, Botschaften und Off-Spaces. Mit Werken von über 500 Fotograf*innen. Aber eben auch: mit Abstand, Masken und Handdesinfektion.

Europa – Identität, Krise, Zukunft steht als Motto über dem EMOP Berlin 2020. Dazu passt die zentrale Ausstellung KONTINENT – Auf der Suche nach Europa  in der Akademie der Künste am Pariser Platz. Die Mitglieder von OSTKREUZ – Agentur der Fotografen haben sich dafür auf Reisen quer durch Europa begeben und von dort Bilder vom jüdischen Leben in Polen, den improvisierten Pandemie-Grenzen zu Frankreich oder dem Alltag von Geflüchteten im rheinland-pfälzischen Holzbachtal mitgebracht. Doch so wie zu Europa nicht nur Deutschland und Frankreich, sondern auch Liechtenstein und Montenegro gehören, ist auch der EMOP Berlin eine Summe vieler Teile. Das beweist in den folgenden Stunden diese Tour, für die der resolute Fahrer nun vor dem Brandenburger Tor seinen Bus startet.

Ausstellungsansicht KONTINENT – Auf der Suche nach Europa
© Kulturprojekte Berlin, Foto: Oana Popa-Costea
Nächster Halt: Tschechisches Zentrum Berlin

Raspelkurze Haare, breites Grinsen und richtig Lust, etwas über ihre Arbeit zu erzählen. So empfängt die tschechische Künstlerin und Fotografin Marie Tomanova unsere Gruppe bereits auf den Treppenstufen zum Ausstellungsraum von Live for the Weather.

Marie Tomanova begrüßt die ersten Ausstellungsbesucher*innen im Tschechischen Zentrum
© Kulturprojekte Berlin, Foto: Oana Popa-Costea

Als Tomanova 2010 in die USA auswanderte, habe sie die Fotografie als Möglichkeit entdeckt, mit Menschen in Kontakt zu kommen, erzählt sie. An den Wänden hängen großformatige Porträts der Serie Young Americans, die seitdem fortlaufend entstehen: Selbstbewusste New Yorker*innen, zu deren demonstrativem Individualismus auch gehört, dass ihre aufgeschürften Ellbogen zu sehen sind oder das Lipgloss auf Halbmast hängt. Posen geht in NYC trotz fettigem Haaransatz.

Daneben hängen die Fotos der Reihe It Was Once My Universe. Acht Jahre durfte Tomanova aus Visa-Gründen die USA nicht verlassen. Erst 2018 kehrte sie für zehn Wochen über Weihnachten in ihre tschechische Heimat zurück. „Ich hatte mich verändert. Aber der Ort, den ich aus der Ferne idealisiert hatte, auch“, sagt sie. In einem Selbstporträt sieht man die Künstlerin im hippen, türkisen Over-Sized-Mantel mit geschlossenen Augen vor einem Mini-Steinbruch voller Wasserlachen stehen. Das passt, und auch wieder nicht. „Zu Hause habe ich gemerkt: Meine Heimat ist jetzt New York.“

Portrait-Serie von Marie Tomanova
© Kulturprojekte Berlin, Foto: Oana Popa-Costea
Nächster Halt: Friedrichstadt-Palast Berlin

„Sie sind die ersten Gäste seit dem 10. März.“

Puh.

Über eine halbe Million Besucher*innen pro Jahr ist Berndt Schmidt als Intendant des Friedrichstadt-Palastes normalerweise gewöhnt. Nun freut er sich über 15 Menschen, die in seinem abgedunkelten Foyer stehen. Im Hintergrund dröhnt Baulärm; bis Jahresende wird eine neue Lüftungsanlage installiert. Auch der Eingangsbereich ist mit Baugerüsten und Planen verhängt. Auf denen sind jedoch, pointiert angeleuchtet, Ensemble-Mitglieder als überlebensgroße Schwarz-Weiß-Porträts aufgedruckt.

Portraits der Tänzer*innen des Friedrichstadt – Palast Berlin
© Kulturprojekte Berlin, Foto: Oana Popa-Costea

Die Bilder stammen von Sven Marquardt, Fotograf und als Berghain-Türsteher legendär. Diesem Ruf wird er gerecht, als er in Trainingshose und weißen Socken, mit dicken Ringen an den tätowierten Fingern, schwarzer Maske und Sonnenbrille aus der Dunkelheit tritt. Im Oktober 2019 hat Marquardt die Tänzer*innen unmittelbar vor oder nach Auftritt oder Proben porträtiert. Einfach so, ohne spezielle Verwertungsidee, sondern als Möglichkeit, künstlerisch frei.

Unnahbar. Versunken. Herausfordernd. Absolut körperbeherrscht. Aber niemals angestrengt. So präsentiert sich das Ensemble, das Marquardt, wie er erzählt, nur mit natürlichem Licht und analog fotografierte. Dass aus den Werken die Ausstellung Stageless wurde, hat sich erst durch Corona ergeben. Mit der Schließung des Hauses verloren die Künstler*innen ihre Bühne – und genau so, bereit zum Auftritt, aber bühnenlos sind sie auf den Fotos zu sehen. Als Kurator wurde C/O Berlin mit ins Boot geholt. „Wir als Friedrichstadt-Palast machen Unterhaltung. C/O Berlin ist hoch seriös“, kommentiert Intendant Schmidt die Kooperation – und stapelt tief. Denn wenn diese Fotos etwas zeigen, dann die Professionalität und hohe Kunst, die auch in der Tanzrevue steckt.

Sven Marquardt in seiner Ausstellung Stageless
© Kulturprojekte Berlin, Foto: Oana Popa-Costea
Nächster Halt: f³ – freiraum für fotografie

Drei Fotograf*innen mit Blindenstöcken. Dieses Empfangskomitee ist so ungewöhnlich wie die Bilder beeindruckend, die unter dem Titel Blinde Fotograf*innen in dem privat geführten Kreuzberger Kunstraum hängen.

Wie kommt ein Blinder zum Fotografieren? Konnte er früher mal sehen? Das zu fragen fühlt sich unpassend, übergriffig an. Doch Gerald Pirner nimmt’s gelassen und erklärt, erblindet sei erst im Laufe seines Lebens. Dann, sein Hilfsmittel leicht anhebend: „Jetzt bin ich stockblind.“

Im Gespräch mit Fotografin Silja Korn
© Kulturprojekte Berlin, Foto: Oana Popa-Costea

Zu seiner Kunst ist der Journalist über einen Foto-Workshop des Fotostudios für Blinde Fotograf*innen gekommen. Seine Werke entstehen zunächst am Schreibtisch, als Idee, im Kopf. Bei der Umsetzung hilft ihm dann eine Assistentin. Für die Porträts hat er die Modelle erst ertastet und dann in der Dunkelheit mit Taschenlampen abgefahren – Lightpainting heißt die Technik, mit der per Licht Aspekte eines Motivs herausgehoben werden. Ein Foto wird gemacht, die Assistentin beschreibt Pirner jedes Detail, der verbessert – „das ist eine Frage des Gedächtnisses.“ In vielen Wiederholungen sind die ausgestellten, aus der Dunkelheit heraustretenden, teils verzerrten Gesichter entstanden, die ein wenig an den Stummfilmklassiker Nosferatu erinnern. Per QR-Code lässt sich ein Tondokument abrufen, in dem Pirner Idee und Hintergrund zu jedem Bild vermittelt.

Selbstportraits von Silja Korn
© Kulturprojekte Berlin, Foto: Oana Popa-Costea

Auch die Fotos der anderen drei präsentierten Fotografinnen nutzen die Technik des Lightpaintings und spielen mit Licht, Farben, aber eben auch Dunkelheit. Für Menschen mit einer Seebehinderung stehen für den Besuch der Ausstellung Bildbeschreiber*innen bereit. Sehende können derweil mit unterschiedlichen Brillen selbst erfahren, wie die Ausstellung mit wenig oder ohne Augenlicht wirkt.

Nächster Halt: CLB Berlin

Vor der riesigen Fensterfront zur Oranienstraße kurven Doppeldeckerbusse, latschen Fußgänger, fiepen E-Roller. Im hellen Ausstellungsraum lehnen die gerahmten Fotos noch an den Wänden; der Hammer liegt noch griffbereit. Dass hier nicht nur zeitgenössische Kunst, sondern auch Urbanismus im Zentrum steht und damit die Brücke zwischen Kultur und Stadt geschlagen wird, wie Gründer Sven Sappelt erklärt, das passt. Ebenso wie die Ausstellung The Independent Photographer. Best of the Year 2019–2020, die schon im dritten Jahr hier gastiert.

Ausstellungsansicht The Independent Photographer im CLB Berlin
© Kulturprojekte Berlin, Foto: Oana Popa-Costea

Jeden Monat startet das Fotoprojekt einen neuen Wettbewerb zu einem Thema. Menschen, Farben oder Straßenfotografie waren es schon in diesem Jahr. Unter allen Einsendungen wählt eine Jury von Expert*innen aus renommierten Agenturen wie Magnum Photos oder National Geographic die zehn besten aus. Die Top 3 aus den vergangenen elf Monaten werden für den EMOP Berlin gerade aufgehängt: Ein Frauengesicht, um das sich eine weiße Schlange mit rotem Ringelmuster windet. Indische Wrestler beim Training in der Sandarena. Eine junge Eislaufprinzessin in blauem Glitzer-Kostümchen inmitten einer harschen, russischen Winterlandschaft. Ein syrisches Ehepaar auf Plastikstühlen am Kaffeetisch. Die Wände ihres Wohnzimmers sind zerbombt und herausgebrochen, sodass im Hintergrund die Ruinen von Duma, einem Vorort von Damaskus, zu sehen sind.

Alltag trifft Kunst, Kultur trifft Kreuzberg. Mehr Vielfalt geht nicht.

Gespräch mit den Beteiligten von The Independent Photographer
© Kulturprojekte Berlin, Foto: Oana Popa-Costea
Nächster Halt: Italienisches Kulturinstitut Berlin

Italien! Aus der Berliner Perspektive steht das für Strand, Pizza und natürlich italienische Kultur, von den Uffizien zu Florenz bis zur Sixtinischen Kapelle in Rom. Seit dem Frühjahr gehört zu Italien jedoch auch: erstmal Fieber messen. Erst als das vor die Stirn gehaltene Gerät grünes Licht gibt, darf man rein ins Kulturinstitut im Gebäude der Botschaft von Bella Italia am Tiergarten.

Ausstellungsansicht im Italienischen Kulturinstitut Berlin
© Kulturprojekte Berlin, Foto: Oana Popa-Costea

Einen kleinen Treppenaufstieg bis unter das Dach später (keine Sorge, es gibt auch einen Aufzug) wartet ein weiteres Italien-Klischee: die Mafia. Die berühmteste Fotografin des Landes, Letizia Battaglia, hat über Jahre ermordete Opfer, ihre Hinterbliebenen und spätere Prozesse mit der Kamera festgehalten. In den hellen Räumen hängen die Fotos, neu kuratiert für hier und jetzt. Und beweisen, dass es kleine Formate in schwarz-weiß in sich haben können: Ein lebloser Körper wird aus einem Auto gezogen. Ein toter Mann im Trenchcoat sitzt noch am Steuer, ein Rinnsal Blut fließt aus dem geöffneten Mund. Eine alte Dame muss, zusammengebrochen, von helfenden Händen von einem Leichnam weggezogen werden.

Beeindruckend bedrückend. Doch nicht die einzigen Werke der Ausstellung Palermo und der Kampf gegen die Mafia. Ebenfalls zu sehen sind Szenen aus dem Alltag jenseits des Verbrechens in Battaglias Heimat Palermo, meist aus den 1970-ern und 1980-ern: Halbstarke Raucher in Bundfaltenhosen. Omas mit Riesenbrillen, die auf Klappstühlen um die Wette stricken. Porträts junger Mädchen und Frauen, die mutig und hoffnungsfroh in die Zukunft blicken.

Wer diese besuchen möchte, muss sich vorher online registrieren und auf den Fieber-Check einstellen. Alternativ hat das Kulturinstitut die Werke für Stubenhocker auch als Web-Doku aufbereitet.

Blick auf die Portraits von Letizia Battaglia
© Kulturprojekte Berlin, Foto: Oana Popa-Costea
Nächster Halt: … und noch viel mehr!

Alle Treppen wieder runter, raus aus dem Gebäude – und nun darf erstmals die Maske ab. Die Schnupper-Tour ist um, doch für den EMOP Berlin geht es erst richtig los. Schließlich waren das nur fünf Ausstellungen aus über 100. Den ganzen Oktober ist nun Zeit, die Fotos aus dem Paris der 1980-er Jahre von Roger Melis in der Galerie argus fotokunst zu sehen. Oder die aus den USA der 1970-ern und 1980-ern von Evelyn Hofer, Sheila Metzner, Joel Meyerowitz und Helmut Newton in der Helmut-Newton-Stiftung. Oder die Gruppenausstellung Masculinities: Liberation through Photography im Martin-Gropius-Bau.

Oder, oder, oder: Eine Übersicht über die ganze Vielfalt mit über den 100 Ausstellungen sowie einem umfangreichen Begleitprogramm mit zahlreichen Veranstaltungen wie Kurator*innenführungen und Filmprogramm findet sich auf der Website emop-berlin.eu. Dort stehen auch alle wichtigen Informationen wie Öffnungszeiten, Eintrittspreise oder ob eine Anmeldung im Vorfeld nötig ist.

Die besuchten Ausstellungen

Live for the Weather / Marie Tomanova
Tschechisches Zentrum Berlin
Wilhelmstraße 44
25.09. bis 14.11.2020, Di-Sa 14-18 h
Eintritt frei, Zutritt nur nach Voranmeldung online

Stageless / Sven Marquardt
Friedrichstadt-Palast Berlin
Friedrichstraße 107
02.10. bis 29.11.2020, Mo-So 11-20 h
Eintritt frei, Zeittickets online buchbar, Restkarten vor Ort

Blinde Fotograf*innen
f3 – Freiraum für Fotografie
Waldemarstraße 17
03.10.2020 bis 17.01.2021, Mi-So 13-19 h
Eintritt 5 Euro, Zeittickets online buchbar

The Independent Photographer. Best of the Year 2019–2020
CLB Berlin
Prinzenstraße 84
01.10. bis 11.10.2020, Mo–So 12-20 h
Eintritt frei

Palermo und der Kampf gegen die Mafia / Letizia Battaglia
Italienisches Kulturinstitut Berlin
Hildebrandstraße 2
24.09.2020 bis 31.03.2021
Mo-Fr 10-18 h,
Eintritt frei, Zutritt nur noch Voranmeldung online

 

Text: Juliane Wiedemeier

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