Unter der Palme

Hoda Tawakol, »Silent Voices in a Palm Grove«, 2023
Hoda Tawakol, »Silent Voices in a Palm Grove«, 2023, Dortmunder Kunstverein, »Lure #25« (2023), Foto: Mareike Tocha, Courtesy: the artist and Dortmunder Kunstverein
Museumsjournal 3/24
Organische Materie: Hoda Tawakol sucht kulturelle Identität im Textilen wie im Garten

Als der Bildhauer Georg Kolbe in den späten 1920er-Jahren mit der Planung des Gebäudeensembles des heutigen Georg Kolbe Museums begann, bestand er darauf, dass keine der Kiefern auf dem Waldrandgrundstück gefällt würde. Bis heute sind sie identitätsstiftend für den Ort und den angebundenen Skulpturengarten wie für die Region Berlin-Brandenburg, die sich durch einen trockenen, sandigen Boden auszeichnet, auf dem die Kiefer gedeiht. Die Künstlerin Hoda Tawa- kol (geboren 1968 in London) stellt den Kiefern nun eine Palme entgegen.

 

In der Ausstellung »Roots« (Wurzeln) präsentiert Tawakol eine ortsspezifische Textilarbeit, die sowohl architektonisch als auch skulptural ist. »Feed Me the Milk of
Your Eyes« wurde eigens entwickelt, um an der Unterseite der zeltartigen Dachkonstruktion im Garten des Georg Kolbe Museums angebracht zu werden. Die
Palme ist bei Tawakol ein wiederkehrendes, ihre Formensprache prägendes Motiv. Tawakol assoziiert die Pflanze mit Schutz vor der brennenden Sonne, mit Nahrung
durch ihre Früchte, aber auch mit Geschlechtlichkeit. So kann die Palme als eine von wenigen Pflanzen ihr Geschlecht wechseln, um den Erhalt eines Palmenhains zu gewährleisten. Tawakol selbst wuchs mit drei Frauen auf, die eine Sicht auf Weiblichkeit prägten, die eng mit Formen der Mutterschaft verwoben ist.

 

Die textile Materialität und organische Form der Palmenblätter stehen in starkem Kontrast zu der Rationalität, die für das geradlinige Gebäudeensemble von Kolbes ehemaligem Atelier- und Wohnhaus so charakteristisch ist. Die Künstlerin erweitert die schützende und erholsame Wirkung des Gartens um ihren eigenen Erfahrungsschatz. Tawakols Arbeit verwandelt den Garten, eingebettet von den für die europäische Moderne ikonischen Bauten, der von den figürlichen Skulpturen Kolbes und seiner Zeitgenoss*innen belebt wird, in einen Kontemplationsraum.

 

Gärten können Orte kultureller Identitätsfindung und -repräsentation sein, der Demonstration von Macht und Souveränität dienen, sie haben aber auch eine private und pflegende Funktion. Als feste Bestandteile der Alltagskultur sind sie Oasen der Reflexion im Verhältnis zur Natur. Das Wahrnehmen der eigenen Körperlichkeit in der »natürlichen« Umgebung des Gartens macht das Selbst und die eigene Identität neu erfahrbar. Die Palme, die ihren Platz nun im Garten des Museums einnimmt, verstärkt die Assoziation einer Oase. Tawakol erinnert dieses Gefühl von Intimität und Privatsphäre an die Architektur der großen Häuser und Paläste des alten Kairos. Sowohl die Kiefer als auch die Palme werden mit bestimmten Vorstellungen von Orten und ihren Kulturen verbunden. So können sie als Zeichen verstanden werden, stellvertretend für eine kulturelle Identität. Für Tawakol symbolisiert die Palme eine nostalgische Sehnsucht nach einem Land, in dem die Künstlerin nie gelebt hat und das doch vertrauter Teil der eigenen Geschichte ist.

 

Die skulpturale Palmenkrone ist mit mehreren funkelnden Augen, aus Stoffen und mit Pailletten gefertigt, besetzt, die von oben herabblicken. Sie sind titel- gebend für die Arbeit »Feed Me the Milk of Your Eyes«, deutbar als Bild einer stillenden Mutter, die ihr Kind anschaut. Die Mutterrolle kann unterschiedlich aufgefasst werden: als Mutter Natur, Mutter Erde, Muttersprache… All das verweist auf die tief verankerten Wurzeln der eigenen Identität. Zwar gilt das Auge in vielen Religionen und Kulturen als Zeichen des Schutzes – wie das Horusauge in der ägyptischen Mythologie – doch bergen die herabschauenden Augen auch ein prüfendes Moment.

 

Text – Emma Borwieck und Eva Da Silva Antunes Alves, Kuratorinnen

 

Hoda Tawakol. Roots

bis 13. Oktober 2024

Georg Kolbe Museum

georg-kolbe-museum.de

 

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